Ökostrom-Pionier

Niebüll statt Norwegen

Solaranlagen, Wind- und Wasserkraftwerke – was hinter einem Ökostromtarif ­steckt, scheint intuitiv klar. Doch häufig trügt der Schein. naturstrom macht sich 2007 auf, das zu ändern.

Licht an, Backofen an, Fernseher an – aber immerhin, es fließt ja Ökostrom. Doch woher kommt der eigentlich? An den Suldalsvatnet denkt sicherlich kaum jemand, obwohl an diesem See das Kvilldal Wasserkraftwerk liegt. Mit einer installierten Leistung von 1.240 Megawatt ist es das größte Norwegens. Mit der Ökostrom-Tariflandschaft in Deutschland hat der Suldalsvatnet nichts zu tun – und zugleich sehr viel, je nachdem.

Schon Mitte der 2000er bieten etliche Stadtwerke, Online-Energiediscounter und auch die großen Konzerne Ökostromtarife an. Die hierfür nötigen Strommengen kaufen sie an der Leipziger Strombörse ein – dort wird Strom allerdings nur unabhängig von seiner Herkunft gehandelt. Um diesen Mix aus u. a. Kohle-, Öko-, Gas- und Atomstrom als Ökostromtarif verkaufen zu dürfen, braucht es Ökostrom-Herkunftsnachweise. Diese Herkunftsnachweise werden europaweit Betreibern von Ökostromanlagen für jede produzierte Kilowattstunde ausgestellt. Allerdings: Ausgerechnet für die Wind- und Solaranlagen in Deutschland gilt das aufgrund der hiesigen Fördersystematik in aller Regel damals wie heute nicht.

Wie gut, dass der norwegische Strommix zu über 90 Prozent Ökostrom enthält – und zwar aus Wasserkraftwerken wie dem Kvilldal Kraftwerk. Die Herkunftsnachweise aus diesen Wasserkraftwerken verhelfen also Mitte der 2000er reihenweise deutschen Energieversorgern zu Ökostromtarifen „made in Norway“. Das versteht allerdings kaum jemand. Und auch der Energiewende bringt es nichts, denn die Herkunftsnachweise werden je Kilowattstunde zu Bruchteilen eines Cent gehandelt. Ein Anreiz, neue Ökostromanlagen zu bauen, entsteht dadurch nicht.

Klinken putzen hinterm Deich

Bei naturstrom überlegt Oliver Hummel daher 2007, wie sich Ökostrom aus heimischer Produktion an die Kund:innen liefern lässt. Der heutige Vorstandsvorsitzende ist damals als Geschäftsführer für die Strombelieferung der Kund:innen zuständig. naturstrom liefert den Kund:innen Wasserkraftstrom aus Deutschland und Österreich. Aber Wind- oder Solarstrom? Dafür fehlt bislang noch der richtige Dreh.
Doch Oliver Hummel findet eine Lösung: „Wir hatten schon damals sehr viele Kontakte zu Energiewende-Pionieren und Bürgerenergie-Gesellschaften, die haben wir genutzt“, erklärt er. Hummel und seine Kolleg:innen fragen sich durch, putzen Klinken, fahren zu den Landwirten an der Küste, die bereits Anfang der 2000er Windräder auf ihre Felder gesetzt hatten.

Windpark Hüll

„Wir hatten schon damals sehr viele Kontakte zu Energie-wende-Pionieren und Bürgerenergie-Gesellschaften, die haben wir genutzt“

Oliver Hummel

So baut Hummel einen Pool an kleineren Ökostromerzeugern auf, die ihre Strom-Erzeugung direkt an naturstrom verkaufen. Damit dieser Strom auch gesetzeskonform als Ökostrom weiterverkauft werden darf, müssen die Anlagenbetreiber auf die gesetzlich festgelegte Einspeisevergütung verzichten. Die etwas höheren Preise kann ihnen naturstrom zahlen, weil Energieversorgern, die Ökostrom auf diese Weise „direkt vermarkten“ unter strengen Voraussetzungen die EEG-Umlage erlassen wird.

Mehr als die Hälfte des Stroms, den naturstrom ab 2008 an die Kund:innen liefert, stammt direkt aus Windenergie-Anlagen in Deutschland. Niebüll statt Norwegen. „Erzeugung und Verbrauch von Ökostrom waren bis dahin Parallelwelten, diese Grenze haben wir aufgebrochen“, erklärt Oliver Hummel. Gar nicht so leicht, denn mit wachsender Anzahl von Kund:innen wächst auch der Lieferantenpool mit. In der Spitze sind es mehr als 200 Anlagen, von denen naturstrom den Strom bezieht. Viele andere Versorger kommen mit einem einzigen Vorlieferanten aus.

Staustufe Fuhlsbüttel

Ökostrom von 200 Vorlieferanten

Die Stromerzeugung dieser 200 Anlagen muss außerdem genau dann an die Kund:innen geliefert werden, wenn sie anfällt – also zeitgleich, wie es in der Energiebranche heißt. „Damit haben wir bei der Marktintegration der dezentralen Erneuerbaren echte Pionierarbeit geleistet“, betont Hummel. Die schwankende Windstromerzeugung gleicht naturstrom über flexible Lieferverträge mit Betreibern von Wasserkraftwerken aus.

Ende der 2000er gibt es keine anderen Stromversorger in Deutschland, die Ökostrom aus förderfähigen Wind- oder Solaranlagen bundesweit an Haushaltskunden verkaufen. Erst Anfang der 2010er treten neben naturstrom vereinzelt weitere Energieversorger auf den Plan, die ihre Beschaffung ebenfalls umstellen.

Doch das Liefermodell bleibt nicht von Dauer, 2014 wird seine rechtliche Grundlage im Erneuerbare-Energien-Gesetz gestrichen. Dennoch setzt sich die Direktvermarktung von Ökostrom– wenn auch auf andere Weise – durch und ist heute für größere Ökostromanlagen Standard. „Die echte Ökostrom-Belieferung hatte Mitte der 2010er unter der großen Koalition keine ausreichenden Unterstützer“, bilanziert Hummel. Er kann es verschmerzen. Einige Jahre später wird naturstrom abermals einen Trend in der Ökostrom-Belieferung setzen. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Erzeugung und Verbrauch von Ökostrom waren bis dahin Parallelwelten, diese Grenze haben wir aufgebrochen“

Oliver Hummel