Silvester

Am Windpark

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Der Countdown läuft

Windräder aufzustellen bedeutet Nervenkitzel. Robert Claus kann davon ein Lied singen. Als 2011 der erste naturstrom-Windpark bis zum Jahresende ans Netz muss, kommt es für den Projektentwickler zum Showdown: Silvester auf dem Acker.

Brotzeit für den Netzbetreiber

Acht Uhr in der Früh. Robert Claus hält in Scheßlitz nahe Bamberg beim Bäcker. Seit fünf ist er auf den Beinen, jetzt wird erst einmal opulent eingekauft. Eine ausgewachsene Brotzeit für fünf Personen: für ihn selbst, zwei Kollegen einer Dienstleistungsfirma, einen Mitarbeiter des Windrad-Herstellers Nordex und den VIP des Tages, einen Vertreter des Stromnetzbetreibers E.ON Bayern, heute Bayernwerk. „Im Baucontainer bei den Anlagen haben wir dann groß aufgetischt. Wir mussten den Mann ja bei Laune halten“, lacht Claus heute.

An Silvester 2011 kann er sich gut erinnern, es steht viel auf dem Spiel. Zwischen Scheßlitz und Königsfeld, am Rand der Fränkischen Schweiz, soll – nein: muss – heute der erste Windpark in Betrieb gehen, den naturstrom von vorne bis hinten selbst geplant hat. Für Spannung sorgt der damalige Gesetzesrahmen: Zum Jahreswechsel sinkt die gesetzlich festgelegte Einspeisevergütung für Ökostromanlagen. Geht der Windpark am nächsten Werktag, Montag, den 2. Januar 2012, in Betrieb, erhält er 20 Jahre lang für jede produzierte Kilowattstunde weniger Geld. Die Wirtschaftlichkeitsberechnung basiert auf den Vergütungssätzen für 2011. Nun also der Termin mit dem Netzbetreiber an Silvester. Hop oder top.

Schon in den Vorwochen war alles Spitz auf Knopf geplant. Im November ist bei allen drei Anlagen des Windparks der Betonturm fertiggestellt, stolze 78 Meter hoch. Fehlen noch drei Turmsegmente aus Stahl, die Gondel und die Nabe mit den Rotorblättern. Robert Claus ahnt, dass es knapp wird, aber kurz vor Weihnachten stehen die fertigen Windräder majestätisch auf der Anhöhe. Jede Anlage hat eine Nabenhöhe von 140 Metern, an der Flügelspitze sogar 190 Meter. Die Rotoren überstreichen 7.823 m2, also eine Fläche größer als ein Fußballfeld. Heute gibt es noch größere Anlagen, aber auch diese Dimensionen sind schon beeindruckend.

„Dass an dem Tag überhaupt noch jemand rausgefahren ist, war schon Glück“

Nach Weihnachten
tickt die Uhr

„Da standen die Anlagen nun, wir mussten sie aber noch rechtzeitig ans Laufen bekommen“, erinnert sich Claus. „Normalerweise braucht es mindestens zwei Tage pro Anlage, um sie zu konfigurieren und die ganzen Parameter richtig einzustellen.“ Am 27. Dezember rückt das Inbetriebsetzungsteam der Herstellerfirma an. Anfahrt von Hamburg aus, der erste Tag ist verloren. Dann noch drei Tage, in denen alles fertig werden muss. Triste Tage auf dem Acker, im Dezemberwind. Aber es gelingt, am Abend des 30. Dezembers drehen sich die Rotoren – freilich noch ohne Strom einzuspeisen.

Dann also der Silvestermorgen, die opulente Brotzeit im Baucontainer. „Dass an dem Tag überhaupt noch jemand vom Netzbetreiber rausgefahren ist, war schon Glück“, so Robert Claus. Immerhin liegt Silvester 2011 auf einem Samstag. Und der Windpark nicht unbedingt verkehrsgünstig. „Aber die hatten da einen Mann, der in der fränkischen Schweiz auf dem Dorf lebte und dem zwischen den Feiertagen die Decke auf den Kopf fiel.“

„Normalerweise braucht es mindestens zwei Tage pro Anlage, um sie zu konfigurieren und die ganzen Parameter richtig einzustellen.“

Startschuss

Gut, dass auch der Wind mitmacht. „Der Mitarbeiter hat darauf bestanden, dass er alle drei Anlage live in Bewegung sehen muss“, erinnert sich Robert Claus und lacht. An diesem Silvestertag läuft alles glatt, im Laufe des Mittags gehen die Anlagen offiziell in Betrieb. Und bis zur Feier am Abend schafft es Claus auch wieder nach Hause.

Den Nervenkitzel kann er gut ab. Heute leitet der 42-Jährige die Projektentwicklung bei naturstrom, die im Laufe der Jahre zu einem Team von deutschlandweit 70 Kolleg:innen gewachsen ist. Der Windpark Neudorf war für Robert Claus das erste Projekt bei naturstrom, im Februar 2010 war der Diplom-Ingenieur für Kartografie zum Unternehmen gestoßen.

Für naturstrom war der Windpark der Startschuss für den erfolgreichen Aufbau der eigenen Projektentwicklung. Heute betreiben naturstrom und ihre Tochtergesellschaft NaturEnergy Wind- und Solarparks mit einer Leistung von 200 Megawatt, hinzu kommen Beteiligungen an Anlagen mit weiteren knapp 160 Megawatt. „Da wird in den nächsten Jahren noch einiges dazukommen“, ist sich Robert Claus sicher. Und auch wenn die diversen Reformen der Ökostromförderung seit 2011 für einige Ärgernisse gesorgt haben, ein Gutes hatten sie für ihn persönlich: Last-minute-Einsätze an Silvester gehören heute der Vergangenheit an.

Und nicht nur das Team, auch der Windpark wuchs mit den Jahren. 2014 und 2016 kamen weitere Anlagen hinzu. Mittlerweile erzeugen zwischen Scheßlitz und Königsfeld acht Windräder rund 48 Millionen Kilowattstunden Windstrom pro Jahr, was ungefähr dem Jahresbedarf von 15.000 durchschnittlichen Dreipersonenhaushalten entspricht. Viele Bürger:innen aus der Region haben seitdem die Beteiligungsangebote von naturstrom wahrgenommen und in den Windpark investiert. Anwohner:innen der umliegenden Ortschaften können außerdem bereits seit 2012 einen vergünstigten Regionalstromtarif von naturstrom beziehen.

„Das Projekt ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Menschen vor Ort durch echte Teilhabe von der Energiewende profitieren können.“

Robert Claus
Projektentwickler naturstrom