Thema: Strommarktliberalisierung
Wildwest hinter der Steckdose
Illustrationen: Sebastian Franz
6 Minuten Lesezeit
Noch Ende der 1990er war die Stromversorgung eine hoheitliche Aufgabe, die von kommunalen Betrieben – den Stadtwerken – verrichtet wurde. Strom war einfach Strom, ähnlich unspektakulär wie das Wasser aus dem Wasserhahn. Eine kommunale Versorgungsanstalt, ein Tarif – und übers Land verteilt rauchten die Kohlemeiler und brizzelten die Atomkraftwerke vor sich hin. An dieser Grundlogik hatte sich nichts geändert, seit die Kommunen auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert ihre Elektrizitätswerke gegründet hatten. Bis 1997 die EU eine Direktive erlies, die die schrittweise Liberalisierung der Energiemärkte in den Mitgliedsstaaten vorsah.
Die deutsche Politik machte sich an die Arbeit – und am 24. April 1998 unterzeichnete Bundespräsident Roman Herzog das erste „Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts“ (EnWG), welches somit wenige Tage später in Kraft trat. Das Gesetz schuf die formalen Voraussetzungen dafür, dass Verbraucher:innen ihren Energielieferanten frei wählen können.
Verbraucher:innen werden Kund:innen
Welche Chancen mit dieser neuen Wahlfreiheit verbunden sein würden, hatte Anfang 1998 eine kleine Gruppe erkannt, die vor allem eines einte: ihre Begeisterung für die noch jungen Erneuerbaren Energien und ihr unbedingter Wille, die damals noch alternativlos erscheinenden Atom- und Kohlekraftwerke Stück für Stück überflüssig zu machen. Am 16. April 1998 gründeten diese 16 Männer und Frauen die naturstrom AG, Deutschlands ersten bundesweit agierenden Anbieter von 100 Prozent Ökostrom.
Nahezu zeitgleich schossen viele weitere neue Anbieter aus dem Boden. Sie hießen Ares, Riva oder Zeus Strom. „Die meisten wollten nur billigeren Strom anbieten, ohne sonstige Qualitäten wie zum Beispiel Klimaschutz“, erinnert sich Hans-Josef Fell, von 1998 bis 2013 Energieexperte in der Grünen Bundestagsfraktion. Mit Discounttarifen versuchen die neuen Player den Stadtwerken die Kunden abjagen.
Alte Platzhirsche bestimmen die Regeln
Die Euphorie im Markt schlägt jedoch bald in Ernüchterung um. Nachdem die Endkund:innenstrompreise in den Jahren 1999 und 2000 nachgegeben hatten, stiegen sie wieder an. Die neuen Anbieter stellten fest, dass die Liberalisierung einen entscheidenden Haken hatte: Der Markt war zwar geöffnet, seine Spielregeln bestimmte jedoch das alte Establishment. Dessen entscheidender Hebel ist der Zugang zum Stromnetz. Denn als einziges EU-Mitglied hatte Deutschland auf den „verhandelten Netzzugang“ gesetzt, also auf Vereinbarungen zwischen den Stromanbietern und Netzbetreibern anstelle einer staatlichen Regulierung. Die Konsequenz sind Wildwest-Methoden. Denn Betreiber der lokalen Verteilnetze sind die Ex-Monopolisten oder deren Tochterfirmen, also parteiische Akteure. Als „Wächter“ über den Netzzugang sitzen sie am längeren Hebel. „Die integrierten Stadtwerke, die sowohl die Netze als auch den Vertrieb in einer Hand hatten, wollten mit Hilfe überhöhter Netzentgelte verhindern, dass ihnen durch Dritte Kunden geklaut werden“, beschreibt es Uwe Leprich, Energiemarktexperte und Professor an der HTW in Saarbrücken.
Auch naturstrom hat hart zu kämpfen. Die ersten knapp 7.000 Kund:innen kommen recht zügig, doch dann herrscht Flaute. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Viele Mitarbeiter:innen aus der Gründungsphase verlassen das Unternehmen, Mitte der 2000er organisiert ein kleines Team von vier Leuten die Kund:innenbelieferung. „In dieser Phase war die Treue der ersten naturstrom-Kund:innen das Zünglein an der Waage“, erinnert sich Oliver Hummel. Der heutige Vorstandsvorsitzende war bereits damals mit an Bord.
Reset für die Liberalisierung
Die meisten anderen Anbieter haben nicht dieses Glück. Reihenweise gehen sie in die Insolvenz oder ziehen sich aus dem deutschen Markt zurück. Wer groß genug ist, schluckt die kleineren oder fusioniert. Preussen Elektra und Bayernwerk verschmelzen zu E.ON, der schwedische Vattenfall-Konzern übernimmt die Hamburger HEW, die Berliner Bewag und den ostdeutschen Energieversorger VEAG. So entstehen Anfang der 2000er die „großen vier“: E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall, die in Vertrieb und Erzeugung den Markt kontrollieren. In einem offiziell zu hundert Prozent liberalisierten Markt haben im Jahr 2005 gerade einmal fünf Prozent der Haushalte wenigstens ein Mal seit 1998 ihren Anbieter gewechselt.
Mitte der 2000er haben nur vier unabhängiger Stromanbieter überlebt: naturstrom und drei weitere Ökostromanbieter. „Die echten grünen Stromanbieter konnten die Menschen einsammeln, die dauerhaft eine Energiewende wollten. Damit haben sie eine langfristige Kund:innenbindung erreichen können“, kommentiert Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW in Berlin.
Vier Mohikaner gegen die Monopolisten
Vier kleine Öko-Mohikaner allein unter den alten Monopolisten – die Liberalisierung ist zu diesem Zeitpunkt faktisch gescheitert. Zum Wendepunkt wird die Novelle des EnWG im Jahr 2005. Sie setzt – nach heftigem Widerstand der alten Energiewirtschaft und daher erst mit zwei Jahren Verspätung – das EU-Binnenmarktpaket von 2003 in deutsches Recht um. „Erstmals wurde eine Regulierungsbehörde eingerichtet“, erläutert Uwe Leprich. „Es gab keinen verhandelten Netzzugang mehr, sondern einen regulierten. Das war im Grunde der Schlüssel, um den ökonomischen Verschluss des Marktes aufzubrechen.“
Die Bundesnetzagentur, bis dato nur zuständig für Telekommunikation und Post, hat nun auch ein Auge auf den Strommarkt. Die Strom- und Gasnetzzugangsverordnungen, die Netzanschluss- und Netzentgeltverordnungen beenden die Willkür der Netzbetreiber und regeln den diskriminierungsfreien Zugang unabhängiger Anbieter zur Netzinfrastruktur. So werden die Reformen von 2005 zum Neustart für den Strommarkt – und für naturstrom.