Junger Mann, wie stellen Sie sich das vor?

Den Stromanbieter wechseln: heute Standard, vor 25 Jahren noch ein Abenteuer. Für die Kund:innen, aber auch für naturstrom als Energiewende-Start-up. Über harte Gründerjahre, späte Erfolge und den prophetischen Charakter eines alten Polaroids unterhalten sich der aktuelle Vorstandsvorsitzende Oliver Hummel, Gründungsvorstand Ralf Bischof und der langjährige Vorstandschef Dr. Thomas E. Banning.

Einen Tag vor dem 25. naturstrom-Geburtstag gingen die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Herr Bischof, verbuchen Sie das als einer von 16 naturstrom-Gründer:innen als späten persönlichen Erfolg?

Bischof: Ja klar! [lacht] Aber Scherz beiseite: Auf dem Weg zur Vollversorgung aus Erneuerbaren Energien, die für naturstrom von Anfang das Ziel war, ist der Atomausstieg natürlich eine wichtige Etappe.

Stand der Atomausstieg denn schon bei der Gründung mit auf der Agenda?

Bischof: Der tauchte in der Vision natürlich auf, die unmittelbaren Herausforderungen waren allerdings andere. Die EU hatte 1997 ihre Mitgliedstaaten dazu verdonnert, die nationalen Strommärkte zu liberalisieren. Diese Chance haben wir beim Schopf ergriffen – und damit zugleich die Vorwärtsverteidigung angetreten. Denn die etablierte Energiewirtschaft und weite Teile der Politik hatten mit den seit rund 60 Jahren bestehenden Gebietsmonopolen gut gelebt. Als klar war, dass die Liberalisierung kommen würde, stellte daher die FDP das Stromeinspeisungsgesetz zur Disposition, das feste Vergütungen für Betreiber von Ökostromanlagen vorsah. Da wurde einigen in der Erneuerbaren-Szene klar: Wir müssen einen ergänzenden Weg schaffen, unseren Strom selbst zu den Endkund:innen zu bringen. Und zugleich deutlich machen, dass dies das Einspeisegesetz noch lange nicht ersetzen kann.

Ein zentrales Qualitätsversprechen von naturstrom ist die Neuanlagenförderung.
Hat die Einsicht, dass das damals ohnehin unzureichende Stromeinspeisungsgesetz auf wackeligen Füßen steht, zu dieser Idee geführt?

Banning: Für Ökostromanlagen, die unter dem damaligen Stromeinspeisungsgesetz nicht wirtschaftlich zu betreiben waren, musste es irgendeine Art Lückenfüller geben. Diese Erkenntnis hatte sich in den Umwelt- und Ökoenergieverbänden irgendwann durchgesetzt. Als naturstrom gegründet wurde, kam dann schnell die Idee auf, über eine an den Stromabsatz gekoppelte Förderung für neue Ökostromanlagen diese Lücke zu schließen.

Wenige Jahre später hat dann das Erneuerbare-Energien-Gesetz dafür gesorgt,
dass viele Anlagen eine auskömmliche Einspeisevergütung erhalten.

Hummel: Genau. Und deshalb ist es wichtig, dass die Neuanlagenförderung immer mit der Zeit gegangen ist. Anfangs hat naturstrom direkte Zuschüsse je Kilowattstunde gezahlt, damit sich die Anlagen überhaupt betreiben lassen. In späteren Jahren ging es dann darum, Projekte von Bürgerenergie-Akteur:innen durch Darlehen oder Minderheitsbeteiligungen zu ermöglichen – oder zunehmend dann auch eigene Anlagen zu errichten. Das Geld der Kund:innen soll einfach einen möglichst großen Impact für die Energiewende haben.

Banning: Mit der EEG-Novelle 2004 wurde die Einspeisevergütung für kleine Solaranlagen angepasst, so dass wir den Anlagenbetreibern nichts mehr dazugeben mussten, um den kostendeckenden Betrieb sicherzustellen. Also haben wir angefangen, mit Bürgerenergiegesellschaften zusammenzuarbeiten und gemeinsam in Anlagen
zu investieren. Das waren meist aus heutiger Sicht recht kleine Solaranlagen, zum Beispiel auf Schul- oder Kitadächern. 2009 haben wir dann mit der eigenen Windparkentwicklung angefangen und 2011 bei Bamberg den ersten Windpark errichtet.

Mit der Gründung von naturstrom entstand die Idee einer an den Stromabsatz gekoppelten Förderung von neuen Ökostromanlagen. Damit konnte ein noch größerer Impact für die Energiewende erreicht werden.

Stichwort Bürgerenergiegesellschaften: Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit Bürgerenergie-Akteur:innen für naturstrom?

Banning: Eine zentrale! Denn dabei geht es ganz grundlegend um eine Demokratisierung der Energiewirtschaft: Die relative Kleinteiligkeit der Erneuerbaren Energien gegenüber den fossilen Großkraftwerken hat es in den letzten rund 20 Jahren allein in Deutschland Millionen Menschen ermöglicht, eine wirklich zukunftsfähige, enkeltaugliche Energieversorgung dieses Landes aktiv mitzugestalten. Mir war und ist es ein persönliches Anliegen, dass naturstrom Teil dieser Entwicklung ist und engagierte Bürger:innen gezielt unterstützt.

Bei den ersten Projekten Mitte der Nullerjahre waren die Dimensionen ganz andere
als heute. Gab es damals einen Masterplan, wie viele Ökostromanlagen welcher Größe naturstrom in zehn oder 20 Jahren errichtet haben will?

Banning: [lacht] Ich glaube, das haben wir nie quantifiziert.

Bischof: Ach, schicke Wachstumskurven habe ich in meinen jungen Jahren bei naturstrom viele gemalt!

Banning: Zumindest die Zielsetzung, nicht ein reiner Ökostromhändler bleiben zu wollen, gab es sehr früh. Die hatten Ralf Bischof, als er noch Vorstand war, und ich damals als Aufsichtsratsvorsitzender gemeinsam definiert und den Aktionär:innen vorgestellt. Also den 20 bis 30 Leuten, die damals zu unseren Hauptversammlungen
in irgendeinen Volkshochschul-Raum kamen.

Nicht nur bei den Hauptversammlungen, auch im Tagesgeschäft wurden ja zunächst kleinere Brötchen gebacken.

Bischof: Was gerade in den ersten ein, zwei Jahren der völlig verkorksten Liberalisierung geschuldet war. 90 bis 95 Prozent der Stadtwerke, von denen wir Kund:innen zu uns ummelden wollten, haben das erst einmal abgelehnt: „Nee, geht nicht.“ „Also ja, Sie haben zwar irgendwie ein Anrecht auf die Ummeldung, aber wir können das nicht.“
Das waren die Auskünfte.

Und dann?

Bischof: In der Regel musste ich dann allein zu den Versorgern hinfahren. Und dann saß ich da vier, fünf Leuten gegenüber: Rechtsabteilung, Kundenservice, Vorstand, alle da. Die haben dann gefragt: Und, junger Mann, wie stellen Sie sich das eigentlich vor?
Zum Glück war ich gut präpariert. Wir haben unsere paar Kund:innen dann immer bekommen, die Stadtwerke wollten wohl ihre Ruhe haben. So gesehen lief es also ganz gut, aber es war unglaublich mühsam.

Gab es noch andere Faktoren, die in den ersten Jahren den Durchbruch verhindert haben?

Hummel: Die Netzentgelte, die wir und andere Stromanbieter den Betreibern der Stromnetze zahlen mussten, waren viel zu hoch. Kein Wunder, denn bei den Stadtwerken saßen die Verteilnetzbetreiber und der eigene Stromvertrieb unter einem Dach. Und da der Netzzugang nicht reguliert war, konnten sie die Preise im Grunde würfeln. Heute sind die Wechselprozesse im Energiemarkt bis ins letzte Feld der letzten Eingabemaske standardisiert, aber damals herrschten Wildwest-Bedingungen.

Bei all den Problemen aus diesen Anfangsjahren: Wieso ist denn ausgerechnet naturstrom übrig geblieben – im Gegensatz zu fast allen anderen Stromanbietern,
die nach der Liberalisierung neu in den Markt gestartet sind?

Hummel: Es haben nur vier unabhängige Energieversorger diese erste Phase der Liberalisierung überlebt – und die sind allesamt Ökostromanbieter. Warum sich ausgerechnet diese vier behauptet haben? Weil sie den Verbraucher:innen glaubhaft vermitteln konnten, dass sie echte ökologische Veränderungen bewirken. Damit haben sie sich qualitativ vom großen Rest des Markts abgehoben. Der unfaire Preiskampf mit den alten Monopolisten, auf den sich die große Masse der unabhängigen Anbieter eingelassen hat, war unmöglich zu gewinnen. Günstigere Preise als das Establishment zu bieten war erst möglich, nachdem die Bundesnetzagentur 2005 den Zugang zum Stromnetz diskriminierungsfrei geregelt hatte.

Und wann war für naturstrom der Durchbruch geschafft?

Hummel: 2006 und 2007 waren die entscheidenden Jahre, und zwar aus zwei Gründen. Erstens kam durch den Stern-Report und den vierten UN-Klimabericht der Klimawandel endgültig im öffentlichen Bewusstsein an. An dem Thema war kein Vorbeikommen mehr. Und zweitens hatten 2006 die AKW-Betreiber begonnen, offensiv den Atomausstieg infrage zu stellen. Als Reaktion darauf hatte sich die Initiative „Atomausstieg selber machen“ gegründet, an der alle großen deutschen Umweltverbände beteiligt waren. Der Grundgedanke: Man solle nicht mehr nur protestieren, sondern auch die eigene Macht als Kund:in einsetzen – und zu einem der wenigen unabhängigen Ökostromanbieter wechseln. In dem damals noch unheimlich nischigen Ökostrommarkt hat uns das einen enormen Anschub gegeben und uns aus dem Seitwärtstrend rausgeholt.

Banning: Man muss ja bedenken, dass naturstrom Mitte der Nullerjahre aus einer Handvoll Leuten bestand, die sich um 6.000 oder 7.000 Kund:innen gekümmert hat!

Hummel: Genau. Aber von 2006 an hatten wir uns dann bis 2011 jährlich verdoppelt – was bei niedrigem Ausgangsniveau natürlich anfangs leicht ist, dann aber zunehmend schwerer wird.

Banning: Die Diskussion um den Ausstieg aus dem Atomausstieg nahm dann ja weiter Fahrt auf. 2010 wollte die schwarz-gelbe Bundesregierung mit aller Gewalt den Konsens aufkündigen. Es gab zwei riesige Demonstrationen in Berlin, mit bis zu 100.000 Demonstrierenden – und wir waren mittendrin. Und anders als bei den Protesten früherer Jahrzehnte war auch klar: Wir wissen nicht nur, dass wir aussteigen wollen, sondern wir wissen auch, wo wir einsteigen wollen!

2010 gab es in Berlin riesige Demonstrationen für den Atomausstieg. Der Unterschied zu früher war, dass die Menschen nun nicht nur wussten, woraus sie aussteigen wollten, sondern auch, wo wir als Land einsteigen müssen: in eine echte Energiewende zu ökologischer Energie.

Die Zeit war also reif.

Hummel: Das auch. Außerdem hatten wir schon ab 2008 einen Strommix, der wirklich einzigartig war in Deutschland: Mehr als 50 Prozent des Stroms, den wir an die Kund:innen geliefert hatten, stammte aus dezentralen Ökostromanlagen in Deutschland. Die Betreiber haben also auf ihre Einspeisevergütung verzichtet und stattdessen den Strom an uns verkauft. Mehr als 300 Anlagen, hauptsächlich Windräder, hatten damals die naturstrom-Kund:innen beliefert.

Banning: Was ja auch, muss man ergänzen, eine ganz schöne Herausforderung ist:
den fluktuierenden Windstrom in diesen hohen Anteilen in die 24/7-Belieferung
zu integrieren.

Hummel: Ja, das ist sehr sportlich. Aber genau das ist ja der springende Punkt, wenn es um die Marktintegration der Erneuerbaren geht: Der Strom muss zum Endkunden kommen – und zwar genau dann, wenn er benötigt wird. Dass diese Art der Marktintegration durch die EEG-Novelle 2014 für einige Jahr de facto unmöglich gemacht wurde, war ein absolut unnötiger Rückschritt. Gut, dass wir mit der Ökostrombelieferung aus ausgeförderten Windrädern und neu errichteten Solarparks seit gut zwei Jahren wieder an diese Entwicklung anknüpfen können.

Bei einem internen Workshop zur Unternehmensvision war schon 1999 zu lesen, naturstrom wolle „Schrittmacher bei der Zukunft der Erneuerbaren Energien“ sein,
wie ein altes Polaroid belegt. Hat naturstrom diesen Anspruch eingelöst?

Banning: Auf jeden Fall. Die Ökostrombelieferung aus förderfreien Wind- und Solaranlagen, Mieterstrom, Nahwärme mit Solarthermie, Sektorenkopplung im Quartier, Sharing-Konzepte mit Lastenrädern – wir waren und sind in ganz vielen Bereichen sehr weit vorne mit dabei, oft genug waren wir tatsächlich die Ersten.

Hummel: Bemerkenswert finde ich außerdem, wie sehr sich naturstrom treu geblieben ist. Die Essenz dieses Workshops von 1999 – also das formulierte Selbstverständnis und der Auftrag, der sich daraus ableitet – ist auch heute noch gültig: Wir gestalten die Energiewende – erneuerbar, dezentral, sektorenübergreifend und gemeinsam mit den Bürger:innen. Diese Konstanz ist mir wichtig. Und nach mehr als 20 Jahren bei naturstrom bin ich auch ein Stück weit stolz darauf, dass wir uns bei allen Neuerungen und bei allem Wachstum diesen Kern bewahrt haben.

Die Vision, die erstmals in einem Workshop 1999 formuliert wurde, ist nach wie vor gültig:
„Der Erhalt einer lebenswerten Umwelt erfordert die vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energiequellen. Naturstrom will Schrittmacher in diesem Zukunftsmarkt sein. Als unabhängiger Energieversorger wollen wir einerseits die Nachfrage nach Erneuerbarer Energie schaffen, andererseits die erforderlichen Angebotskapazitäten ausbauen.“