Meilensteine der Klimaschutz- und Energiewende-Debatte

Energiewende im Wechselbad

Klimaschutz kommt im Mainstream an, Schwarz-Gelb beerdigt den Atomausstieg und Fukushima wendet das Blatt – die späten Nuller- und frühen Zehnerjahre sind für die Energiewende eine Zeit des Auf und Abs.

6 Minuten Lesezeit // Illustrationen: Janko Grode

Meilensteine der Klimaschutz- und Energiewende-Debatte

Als im März 2023 die Synthese des sechsten IPCC-Sachstandsbericht veröffentlicht wurde, war die mediale Bestürzung wieder einmal groß – aber auch ziemlich routiniert. Die Klimakrise versetzt zwar viele Menschen in Sorge, aber sie schockt nicht mehr. Mitte der Nullerjahre ist das noch anders. Innerhalb kurzer Zeit schlagen zwei Veröffentlichungen enorme mediale Wellen.

Im Oktober 2006 ist es der Stern Report des britischen Ökonomen Nicholas Stern, der auf rund 650 Seiten dem Klimawandel ein Preisschild gibt. Der Bericht benennt die Kosten einer ungebremsten Erderwärmung – und Optionen zum Gegensteuern. Ab Februar 2007 folgen dann über das Jahr verteilt die Arbeitsgruppenberichte zum vierten Sachstandsbericht des Weltklimarates. Damit ist das Thema gesetzt, die Klimakrise ist in Deutschland in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

Damit ist das Thema gesetzt, die Klimakrise ist in Deutschland in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

Atomarer Backlash

Die alteingesessene Energiewirtschaft leitet daraus ihre ganz eigenen Schlüsse ab – und intensiviert ihre Bemühungen, den Atomausstieg zu kippen. Schon im Herbst 2006 hatte RWE die Übertragung von Reststrommengen anderer Atommeiler des Konzerns auf das südhessische AKW Biblis beantragt. Schützenhilfe kommt vom Bundesverband der Deutschen Industrie: „Eine sichere, umweltschonende und preiswerte Stromversorgung in Deutschland ist ohne die Kernenergie nicht denkbar“, mahnt BDI-Präsident Jürgen Thumann im Sommer 2006.

Bei der neuen schwarz-gelben Bundesregierung stoßen solche Töne ab 2009 auf offene Ohren. Am 6. September 2010 präsentieren Wirtschaftsminister Brüderle und Umweltminister Röttgen ihren Plan: Ältere Atomkraftwerke sollen acht Jahre länger am Netz bleiben können, jüngere sogar 14 Jahre. Ende September wird der Ausstieg aus dem Atomausstieg im Bundestag besiegelt.

Die aufziehende Klimakrise und das Comeback der Atomkraft tragen dazu bei, dass naturstrom und die wenigen anderen unabhängigen Ökostromanbieter aus ihrer Nische herauswachsen. Ökostrom wird reif für den Mainstream.

Atomausstieg mit den Füßen

Angesichts der rollenden Konterrevolution, die ab der zweiten Hälfte der Nullerjahre die Energiewende bedroht, gründet bereits 2006 eine Gruppe aus 23 Umweltverbänden, Verbraucherschutz-Organisationen und Anti-Atom-Initiativen die Kampagne „Atomausstieg selber machen“, darunter die großen Verbände BUND, NABU, der WWF und Robin Wood.

Nach der Atomwende der Bundesregierung mobilisiert die Umweltbewegung dann all ihre Kräfte: Am 18. September 2010 demonstrieren in Berlin bis zu 100.000 Menschen für den Atomausstieg und die Energiewende – auch viele naturstromer:innen sind vor Ort, Vorstand Thomas Banning verteilt im Gewühl fleißig Flyer. Die Großdemo wird zu einer Sternstunde des zivilgesellschaftlichen Protests gegen die Atomenergie.

Das wachsende Bewusstsein für die aufziehende Klimakrise und das Comeback der Atomkraft tragen dazu bei, dass naturstrom und die wenigen anderen unabhängigen Ökostromanbieter aus ihrer Nische herauswachsen. Ökostrom wird reif für den Mainstream. Von 2007 an verdoppelt sich die Anzahl der naturstrom-Kund:innen jährlich, wenn auch freilich zunächst von sehr bescheidendem Niveau aus.

Fukushima-Schock bringt die Wende

Gegen die Laufzeitverlängerung der AKW hilft indes aller Protest nichts. Erst die Atomkatastrophe von Fukushima am 11. Märze 2011 bewegt Kanzlerin Merkel zum Umdenken. Am 9. Juni sagt sie im Bundestag: „In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden.“ Der Ausstieg aus dem Ausstieg wieder rückgängig gemacht: Ende 2022 sollen die letzten AKWs vom Netz gehen.

„Ananas züchten in Alaska“

Die Euphorie für den Ausbau erneuerbarer Energien ist indes politisch nur von kurzer Dauer. Es beginnen zähe Jahre, in denen die Energiewende zwar nicht mehr öffentlich in Zweifel gezogen, jedoch von den Merkel-Regierungen und auch einigen Bundesländern mehr oder weniger subtil behindert und verzögert wird. Die deutsche Solarindustrie wird nach Rekordausbaujahren ab 2012 sehenden Auges ruiniert, zehntausende Jobs gehen in wenigen Jahren verloren. Vom damaligen RWE-Vorstandschef Jürgen Großmann ist aus demselben Jahr die Aussage überliefert, er halte die Förderung von Solarenergie in Deutschland für so sinnvoll „wie Ananas züchten in Alaska“.

Komplett zurückdrehen lässt sich das Rad jedoch nicht – die dezentrale Energiewende rollt. Gemeinsam mit anderen Akteuren der Erneuerbaren-Szene gründet naturstrom Anfang 2014 das Bündnis Bürgerenergie, das seitdem Energiegenossenschaften und anderen lokal organisierten Initiativen der Energiewende eine Stimme gibt. „Die Energiewende von unten ist akut gefährdet“, sagt seinerzeit Herrmann Falk, damals naturstrom-Aufsichtsratsvorsitzender und Vorstand im Bündnis Bürgerenergie. Heute wissen wir: Sie hat sich nicht unterkriegen lassen.

„In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden.“

Angela Merkel